Im Norden, Tag 3: Gondar & Simien Mountains

Donnerstag, 17. November 2011

Die orthodox-christliche Kirche Qusquam Mariam außerhalb von Gondar. Eine Feier zum Abschluss der Fastenzeit, zu deren Höhepunkt die Bundeslade aus dem Allerheiligsten herausgetragen und von einer Prozession um die Kirche herum begleitet wird. Wie immer in solchen Fällen war ich zunächst unglaublich befangen und fühlte mich wie ein Eindringling, obwohl mich Netsanet an die Hand nahm. Ich saß eine Zeitlang bei den Frauen im Inneren der Kirche auf einer Bastmatte, ließ mir von ihnen das helle Lilililili-Rufen beibringen, habe furchtbar viel gelacht, weil sie auch so viel lachten, und brach irgendwann in Tränen aus – ich will das gar nicht analysieren, aber es hat viel mit dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu tun, das nach elf Monaten Fremdsein einfach übermächtig wurde. Eine alte Frau neben mir sprach auf amharisch auf mich ein, ich antwortete entschuldigend und tränenübertrömt auf englisch, wir guckten uns an und verstanden uns und verstanden uns auch wieder nicht. Und dann sagte sie, auf italienisch: Come stai? Das hat sie vielleicht mal in den Vierzigern während der italienischen Besatzungszeit gelernt. Und ich sagte: Va bene und heulte gleich noch mehr.

So war das, zu Beginn von Tag 3. Danach fuhren wir weiter in die Simien Mountains. Das seltsam entrückte Gefühl, das man hier oben im Norden hat – als lebte man nach einer Zeitreise wieder in biblischen Zeiten –, setzte sich fort: Ziegen- und Eselsherden laufen über die Schotterstraßen, Weißgekleidete wandern durch die Felder, die immer noch mit Holzpflügen bestellt werden. Ich wanderte an Canyons entlang, saß auf einer Wiese zwischen rotbrüstigen Dschelada-Pavianen, die nur hier im Hochland von Äthiopien leben, schaute zu, wie ihre Jungen die Bäume hochjagten und wieder herunterfielen, und trank abends mit ein paar Engländern am offenen Feuer ein bis mehrere Bier. Ein guter Tag? Ich würde sagen: ein ziemlich grandioser Tag.

„Wozu das Gewehr?“ fragte ich unseren Gebirgsführer Abu. „Hyänen und Leoparden“, antwortete er bündig. Oh. Okay.

Prinzip Hoffnung: Für die 20 bis 30 Touristen, die hier am Tag auf der Hochebene vorbeiwandern, hat ein Dorf einen Souvenirstand aufgebaut.

Im Norden, Tag 2: Gondar

Dienstag, 15. November 2011

Ein echter Glücksfall: Auch in Gondar habe ich tadellosen Internetempfang in der Hotellobby, und ein lecker St. George Bier gibt es auch dazu.

Heute: von Bahir Dar durch eine wunderschöne Terrassenlandschaft nach Gondar, ab 1636 für gut 200 Jahre Äthiopiens Hauptstadt. Ich habe meine Führerin Netsenet gebeten, unterwegs öfter mal anzuhalten, um mir das Alltagsleben hier oben zu zeigen, daher die Bilder vom Dreschen und aus einem Dorf.

In Gondar: die alten Königspaläste, die Debre Birhan Selassie-Kirche, die einzige, die die sudanesischen Derwische Ende des 19. Jahrhunderts nicht zerstört haben, und das Bad des Kaisers Fasilides. Bereit? Los geht’s.

Das äthiopische Grundnahrungsmittel Injera wird aus Teff gemacht, und Teff wird seit Jahrtausenden so gemacht: Ochsen trampeln das klitzekleine Korn aus den Halmen und dürfen hinterher das Heu fressen.

Ein Dorf mit etwa dreißig Einwohnern, das heute allerdings bis auf ein paar Kinder verwaist war: eine Beerdigung im Nachbardorf.

Die Küche. Hier wird nur vorbereitet, gekocht nebenan in einem Haus für alle.

So sehen hier Geschäfte aus: kleine Wellblechbuden am Straßenrand, deren Läden einfach abends heruntergeklappt werden.

Mittags: Injera, das allgegenwärtige äthiopische Schwammbrot aus Teff-Teig, der für zwei Tage gärt und deshalb leicht säuerlich schmeckt. Heute mit scharfem Kichererbsenmus. Ich hab Injera zuerst überhaupt nicht gemocht, jetzt kann ich kaum noch ohne. Es ist gleichzeitig Teller und Esswerkzeug. Einfach ein Stück abreißen und damit die Speisen fassen. (Auch nicht schlecht als Serviette.) Ich kriege übrigens mittags drei Leute – meinen Fahrer Dereje, meine Führerin Netsenet und mich – für bummelig vier bis sechs Euro satt. Mit Wasser und Kaffee.

Der kaiserliche Palastkomplex. Gegründet von Fasilides, von seinen Nachfahren erweitert, jeder hat einen Palast hinzugefügt. Der eine einen Festsaal mit Stallungen, der nächste einen Musiksaal.

Die Debre Birhan Selassie-Kirche aus dem 17. Jahrhundert. An der Decke: hunderte von ganz bezaubernden äthiopischen Engeln, alle in vierjähriger Arbeit von einem einzigen Mönch gemalt. Die Farben so frisch, als wäre es gestern gewesen.

Die Dreieinigkeit.

Diese Maria ist wie die Mona Lisa: Ihre Augen folgen einem überall hin.

Gebetsstäbe, von den Priester in der Kirche gebunkert. Die orthodoxen Zeremonien dauern drei bis vier Stunden – im Stehen. Da ist man dankbar, manchmal das Kinn auf einen Stab stützen zu können.

Das Bad des Fasilides. Ein Pool von 53 mal 28 Metern, der einmal jährlich, am 19. Januar, für drei Tage mit dem Wasser des nahen Flusses gefüllt wird. Gefeiert wird Timkat, das Fest der Heiligen Drei Könige und gleichzeitig eine Taufzeremonie. Priester segnen das Wasser, die Dorfjugend schwingt sich von den Ästen der Würgefeigen, die die Mauern überwuchert haben, ins Becken, alle schwimmen lustig durcheinander – es muss ein gigantisches Volksfest sein.

Im Norden, Tag 1: Bahir Dar

Montag, 14. November 2011

Noch einen letzten Fetzen Internetz habe ich hier, deshalb die erste Fuhre Fotos. Heute: Wasserfälle des Blauen Nils, Papyrusboote auf dem Tanasee, das Kloster Ura Kidane Mehret. Unkommentiert, ich glaube, es geht auch so. Bildunteschriften liefere ich nach, wenn ich wieder zurück bin. Es war ein unglaublicher Tag, eine Reise in die Vergangenheit, zu Urgewalten (ob Natur oder Glauben) und zur Einfachheit.

Offroad, offline

Sonntag, 13. November 2011

Liebe Mitreisende, ich melde mich für neun Tage ab, ich reise in den Norden. Das bedeutet: in eine Gegend ohne Netz und doppelten Boden. Ich melde mich danach mit hoffentlich tollen Bildern und weiteren verwirrenden Eindrücken dieses verwirrenden Landes.

Kolonialschlampen-Tag

Sonntag, 13. November 2011

Dies ist ein Dankesbrief an zwei wunderbare Menschen, Meike und Ingo Becker, denen ich wahnsinnig viel Spaß und ein gerüttelt Maß an Einsichten in das Addis-Leben verdanke. Sie leben seit fünf Jahren hier, Ingo hat eine Professur am Ethiopian Institute of Architecture, Building Technology and City Development und war für ein GTZ-Programm zum Bau von 15 Universitäten hierher gekommen, eines der größten deutschen Entwicklungshilfeprojekte in Äthiopien. Ihre Kinder, 18 und 14, gehen auf die Deutsche Schule, Meike hat bis vor kurzem am Filmprojekt von Brigitte Maria Mayer mitgearbeitet.

Wir hatten schon zwei sehr lustige Abende miteinander verbracht, doch gestern sind wir den ganzen Tag durch die Stadt gefahren. In der Uni zeigte Ingo mir ein Projekt zum Bau von Flüchtlingsunterkünften: Häuser aus Gabionen, mit Steinen gefüllten Drahtkörben, und begrünbaren Bambusdächern, billiger und unendlich viel langlebiger als die vom UNHCR aufgestellten Zelte. Was mir nicht klar war: Diese Camps sind selten Provisorien, viele Flüchtlinge leben bis zu 20 Jahren dort.

Wir drehen eine „Kolonialschlampen“-Runde, wie Ingo das sarkastisch nennt. Durch das riesige Gelände der deutschen Botschaft, zur bestens ausgerüsteten Deutschen Schule, zum Lunch ins pompöse Sheraton (oben), dessen Gäste am Pool durch hohe Zäune mit Landschaftsmalereien von der bösen Welt da draußen verschont bleiben, in eine trostlose gated community außerhalb der Stadt, wo NGO-Mitarbeiter und einige wenige reiche Äthiopier abgeschirmt zu überteuerten Mieten in Luxushäusern wohnen.

Wir fahren zur Seidenweberei Sabahar, einem der vielen kleinen Projekte, die hier blühen: hinreißende handgewebte Rohseide- und Baumwollschals in warmen Naturtönen. Ich kaufe ein Tuch, Meike (die andere) kauft ein paar der wunderschönen Handtücher von From the hands of Ethiopia, einem Projekt, das der Hamburger Weber Andreas Möller in Bahir Dar angestoßen hat.

Wir fahren über die Ring Road, eine neue Umgehungs-Schnellstraße, über die Leute rennen und die immer noch, unfassbar, per Hand gefegt wird. Wir fahren hinaus aus der Stadt, vorbei an Wasserstellen, um die sich Frauen mit riesigen Kanister drängen, über Schotterpisten zu den Neubaugebieten, die hier im Nirgendwo auftauchen wie Geisterstädte. Hastig hochgezogen, völlig unerschlossen, nur mit raren, überfüllten Sammeltaxis erreichbar. Die Stadt wächst in einem atemberaubenden Tempo. Bis jetzt gibt es noch kaum eine städteplanerische Idee, mit der Bevölkerungsexplosion umzugehen. Die begehrten Innenstadtlagen werden ausländischen, meist chinesischen, Investoren überlassen, die in irrer Geschwindigkeit Gebäude hochziehen, die nach zwei Jahren schon wieder verfallen.

Abends sitzen wir wieder im urgemütlichen alten Haus der Beckers, durch dessen Garten zwei Hunde, zwei riesige Schildkröten, eine Ziegenherde und eine Hühnerschar laufen (der Esel wurde kürzlich umquartiert, er hielt sich anscheinend für einen Hund und kam immer wieder ins Haus gewandert). Wir gucken Fotos von ihren Reisen durchs Land, atemberaubend schöne und herzzerreißend traurige Bilder, die meine Frage, was sie hier hält, schon von ganz allein beantworten. Die beiden sagen mir das, was mir schon andere in Addis gesagt haben: Die Arbeit, das Leben hier macht einfach mehr Sinn als zuhause. Es ist frustrierender, aber eben auch ungleich befriedigender als in Deutschland. Die Erfahrung, einen spürbaren Unterschied im Leben anderer zu machen, etwas auszurichten und zu verändern, einen wirklichen Lebenszweck zu erfüllen, das ist es am Ende, was zählt. Was bleibt und was sie bleiben lässt.

Freitagnacht

Sonntag, 13. November 2011

Unter den Top Ten der besten Abende in diesem Jahr ist dieser hier ziemlich weit oben. Zuerst Essen mit ein paar Leuten im Juventus Club. Das ist ein alter Sportverein mit angeschlossener Gastronomie, der irgendwann mal bei allen möglichen Fußballclubs weltweit angefragt hat, ob die ihn sponsorn würden. Es meldete sich Juventus Turin, und seitdem heißt der Laden so, wie er heißt. Abends trifft man sich hier an langen Tischen zu italienischem Essen, Kinder sausen durch den Raum oder toben sich in der Turnhalle nebenan aus, ein paar Entwicklungshelfer hängen an der Bar herum, in einem Nebenraum tagt eine Pokerrunde. Essen für vier mit Zickleinragout, Piccata alla Milanese und ordentlich viel Rotwein: knapp 40 Euro.

Das war schon mal gut. Dann wurde es richtig, richtig gut. Ich hatte schon vorher vom Jazzamba gehört, einem Jazzclub im alten Ballsaal des Taitu Hotel, des ältesten Hotels Äthiopiens. 20 Jahre lang war der Saal verwaist, seit Juni spielt hier wieder jeden Abend eine Band. Die Atmosphäre ist großartig: der Saal pickepackevoll mit gutbesetzten Tischen, darüber ein paar funzelige Kronleuchter, links eine Bar. Auf der Bühne, wie jeden Freitag: das Addis Acoustic Project, eine noch junge Band mit einer Legende an der Mandoline, Ayele Mamo. In den Fünfzigern und Sechzigern war Addis eine Jazz-Hochburg, als das Derg-Regime die Macht übernahm, war es vorbei mit der Freiheit. Doch jetzt finden die alten Musiker eine neue Bühne. Für einen Gastauftritt tritt Girma Negash ans Mikro, ebenfalls ein Held der guten alten Zeit – heute fährt er Taxi. Später kommt Melaku Belay, einer der besten traditionellen Tänzer der Stadt hinzu (in seinen Club Fendika muss ich auch noch mal, so ungefähr ist es da), spätestens jetzt dreht der Laden völlig durch und ich auch. Die Stimmung ist sensationell. Ein bisschen Buena Vista Social Club, ein bisschen Familienfeier, ein bisschen hysterisch. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt so gelöst, so ausgelassen, so glücklich war. Ein großes, großes Geschenk, so etwas erleben zu dürfen.

Hier noch ein ganz professionelles Video über das Addis Acoustic Project. Und hier ihre erste CD.


Spam-Tag

Freitag, 11. November 2011

Hin und wieder schiebt sich ein völlig komatös verbrachter Tag dazwischen, der mich befällt wie ein Schnupfen. Einer, an dem mir jede Energie fehlt, das zu tun, was ich soll, und erst recht die Energie, das zu tun, was ich will. Ich starre auf meinen Kalender – grün für Arbeit, blau für private Termine, orange für Reise –, der Kalender starrt zurück. Ich hätte schreiben sollen gestern. Ich habe angefangen, es ging nicht, keine Lust, keine Idee. Noch nicht mal Lust, eine Idee zu haben. Rausgehen? Nö, auch keine Lust und immer mal wieder Regenschauer. Ein Buch begonnen und wieder hingelegt. Ziellos im Netz gesurft, mich seufzend um eine Kommentarspam-Attacke gekümmert (natürlich ausgerechnet auf den Post mit dem Handtaschenraub) und im Lauf des Tages geduldig an die 800 Spams gelöscht, in etwa der Art, wie man Flöhe aus einem sehr großen Hund sammelt. Aus dem Fenster gestarrt. Wäsche im Handwaschbecken gewaschen. Zwischendurch geschlafen.

Um es kurz zu machen: Ich habe den ganzen Tag bis 19 Uhr im Hotelzimmer verbracht und nichts getan, was ich hätte benennen können. Nichts, was nötig war, nichts, was mir Freude gemacht hat. Normalerweise rettet mich dann eine Verabredung – gestern hatte ich keine. Aus der Bar unten im Hotel drang Musik, jeden Donnerstag spielt hier ein Jazzquartett. Und plötzlich kippte meine Stimmung um. Habe Sportklamotten angezogen, bin ins Hotel-Fitnesscenter gegangen und fünf Kilometer auf dem Laufband gelaufen. Dusche, Morgenmantel, in einer halben Stunde die Hälfte des zu schreibenden Texts geschrieben. Im Bambi-Livestreaming angeguckt, wie sich Veronica Ferres („Ich bin nicht Goethe“) und Bushido um Kopf und Kragen reden – es ist ja immer eine Freude zu sehen, wie sich die Leute selber erledigen. Und von Addis aus betrachtet, mit dem Blick eines amüsierten Ethnologen, haben solche Rituale plötzlich eine ganz neue Faszination. Um elf ins Bett, im Wissen, dass heute ein besserer Tag kommen würde.

Diese Tage sind nötig, ich habe sie inzwischen zu schätzen gelernt. Ich hadere nicht mehr mit ihnen und nicht mehr mit mir. Oberflächlich betrachtet passiert wenig bis nichts, in Wirklichkeit aber eine Menge. Dinge werden verarbeitet, Kräfte gesammelt, Gedankenfetzen formen sich zu kleinen Zellklumpen. Die Sporttrainingslehre sagt: Muskeln wachsen an Ruhetagen. Gerade an solchen tauben, scheinbar trostlos vertrödelten Tagen sickert die Reise an irgendeine geheime Stelle meiner Eingeweide. Dahin, wo Sinn entsteht.

Bole Road

Mittwoch, 9. November 2011

In der Tourist Information am Meskel Square.
„Guten Tag, haben Sie einen Stadtplan von Addis?“
„Nein, aber Sie können einen im Souvenirshop nebenan kaufen.“ 
„Haben Sie denn sonst Informationsmaterial über die Stadt?“ 
„Hm… nicht wirklich. Doch, hier, diesen Veranstaltungskalender.“
„Aber der ist ja für Oktober.“
„Den für November kriegen wir nächste Woche.“
„Also Mitte November?“
„Ja.“
Im Souvenirshop nebenan:
„Guten Tag, haben Sie einen Stadtplan von Addis?“
„Ich muss mal schauen. Ja.“
Ein quadratmetergroßes Plakat wird gebracht.
„Haben Sie so etwas auch kleiner, zum Falten?“
„Nein.“
„Danke schön.“

Also gut, dann halt so. Der heutige Plan: die Bole Road hinunter laufen, eine etwa fünf Kilometer lange Hauptstraße mit Restaurants, Kinos und Shoppingcentern, die am Flughafen Bole endet.

Erster Halt: das subtil betitelte „Red Terror“ Martyrs Memorial Museum, das die Herrschaft der marxistischen Derg-Militärjunta in den Jahren 1974 bis 1991 behandelt. Drinnen geht es ebenso holzhammerig weiter: In einer Vitrine diverse Folterinstrumente von der Lederpeitsche bis zur rostigen Kneifzange, das lebensgroße Modell einer Foltermethode namens wofelala (das wollen Sie nicht wissen), der Nachbau eines Massengrabs, daneben – in raumhohen Glasschränken – die Original-Schädel und Knochen, die darin gefunden wurden, Särge gefüllt mit blutigen Kleidungsstücken, Schwarzweißfotos von Opfern der Massenhinrichtungen, deren Leichen anschließend in den Straßen verrotteten. Das Museum ist weniger Aufklärung als Propaganda, ein einziger Empörungsschrei – der enorm an Wirkung verliert durch die Selbstdarstellung der derzeitigen Regierungskoalition EPRDF als siegreicher Befreier von den Unterdrückern. Also genau des Parteienbündnisses, das ihrerseits etliche Oppositionelle auf dem Gewissen hat und dieses Museum 2010 in einem Luxusbau an einen der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte von Addis geklotzt hat.

Vorbei an Großbaustellen, auf denen Frauen die Knochenarbeit leisten und die Zementeimer schleppen, während die Männer mit den Händen in den Taschen daneben stehen. Davor Plakate mit Aufschriften wie „From shabby to chic – witness the transformation!“ Um Platz für die neuen Prachtbauten zu machen, wurden tausende von Slum-Hütten plattgemacht und ihre Bewohner an den Stadtrand verbannt.

Kurz in ein Musikgeschäft, um eine CD mit äthiopischem Jazz zu kaufen. Gibt es gerade nicht, könne man mir aber bis morgen schwarz brennen, mit Farbkopien des Covers und des Booklets, für 90 Cent. Ich winke ab. In den Regalen: James Last-CDs mit verblichenen Schwarzweiß-Kopien des Covers.

Weiter: Postmodernistische Monsterbauten, davor verkrüppelte Bürgerkriegsopfer, die sich auf Ellenbogen über die Straße robben. Ein schwarzer Mercedes, ungeduldig hupend. Ein Burger-Restaurant. Ein Pizza-Restaurant. Ein Day Spa, Maniküre: 2,40 Euro. Bettelnde Frauen, bettelnde Kleinkinder.

Das Friendship Shopping Center. Darin ein Juwelier mit wunderschönen orthodoxen Silberkreuzen.

Und ein Supermarkt mit fast leerem Kühlregal: nur ein paar Milchschläuche und einige Töpfe geklärter Butter.

Und eine Möbelabteilung mit Sitzgruppen für 2800 Euro, steinhart gepolstert. Hier lässt sich niemand sinken.

Und ich habe mir für 50 Cent eine Tüte Erdnüsse gekauft, allein schon weil irgendjemand – ich könnte schwören: eine himmelschreiend unterbezahlte Frau – sich die Mühe gemacht hat, in jede einzelne der etikettenlosen Plastiktüten oben rechts in die Ecke ein kleines Loch zu stanzen, dort ein sorgsam geringeltes rosa Bändchen einzufädeln und es vorsichtig zu verknoten. So was bringt mich um vor Rührung.

Bar jeder Vernunft

Montag, 7. November 2011

Keine fünf Tage hier, und schon bin ich mitten drin in dieser seltsamen Blase, in die man als Weiße so leicht gerät. Ich kenne es ja schon aus Indien: Als leicht identifizierbare Europäerin wird man auf der Straße bei jedem Schritt angestarrt, angesprochen („Where are you from? Do you need a guide?“), angebettelt – völlig normal, völlig nachvollziehbar, trotzdem anstrengend. Früher oder später findet man sich also bei einem Bier im Wohnzimmer der Expatriates wieder: in der Bar des Hilton. Ich hatte dort gestern meine dritte Verabredung. Man trifft sich im Hilton, nie im Sheraton – das gilt dann doch als zu unfein luxuriös. Das Hilton hingegen hat genau die richtige Patina eines in die Jahre gekommenen und etwas heruntergekommenen Hotels, wo man sich ohne allzuviel schlechtes Gewissen vom Wahnsinn da draußen erholen kann. NGO-Mitarbeiter, Diplomaten, Journalisten, Fotografen verabreden sich hier, und kurz vor 17.30 Uhr, zu Beginn der Happy Hour, füllt sich der Laden jeden Abend.

Ich traf dort gestern die dpa-Korrespondentin für Ostafrika, Carola Frentzen. Sie war 14 Jahre lang Korrespondentin in Rom, beschloss dann, in einem einjährigen Sabbatical „mal was Sinnvolles“ zu machen, ging mit ihrem damaligen Lebensgefährten nach Äthiopien, um eine Charity-Organisation aufzubauen – und verliebte sich in das Land. Über ihre Erfahrungen hat sie ein Buch geschrieben. Wir saßen vier Stunden in der Bar, redeten über das Reisen, das Leben in der Fremde, Sehnsuchtsorte, Zukunftspläne (die alle nicht in Deutschland spielen). Tolle Frau, toller Abend.

Sonntagszeitung

Sonntag, 6. November 2011

Kleine Presseschau aus Fortune, Äthiopiens größter englischsprachiger Wochenzeitung. Groß heißt in diesem Fall: eine Auflage von 7.500 bei gut 83 Millionen Einwohnern. Die Zeitung ist angeblich regierungsunabhängig. Tatsächlich ist ihr Chefredakteur bestens mit Premierminister Meles Zenawi befreundet.

Titelgeschichte: Kabinett billigt einen Kredit in Höhe von 60 Millionen Dollar für den Ausbau der 4,3 Kilometer langen Straße vom zentralen Meskel Square zum Flughafen. Darlehensgeber: eine chinesische Bank. Auftragsempfänger: ein chinesisches Bauunternehmen. Der Auftrag war zunächst an ein einheimisches Unternehmen gegangen, dem es „aufgrund von Zweifeln an ihren Fähigkeiten“ wieder entzogen wurde. Über die Querelen sind vier Jahre ins Land gegangen, die Chinesen sollen jetzt aber trotzdem den ursprünglichen Fertigstellungstermin, 2013, einhalten – denn Addis Abeba wird dann Gastgeberin der Feiern zum 50. Jahrestag der Afrikanischen Union. Baubeginn: Anfang 2012.

• Einführung einer bislang nicht verbindlichen Haftpflichtversicherung für Autofahrer als Reaktion auf die hohen Unfallquoten. Eine Zahl von 2002: jährlich 134,3 Verkehrstote pro 10.000 zugelassene Fahrzeuge. Haftpflicht-Höchstsumme im Todesfall: 1.700 Euro.

• Der neue indische Hoteldirektor des Hilton will drei der derzeit vier Handy-Händler bis Jahresende aus der Lobby schmeißen. „Es soll hier aussehen wie ein Hotel, nicht wie ein Shoppingcenter.“

• Die äthiopische Öko-Schuhfirma soleRebels steht auf der Shortlist für den African Award for Entrepreneurship. Die Firma, die Schuhe aus alten Lastwagenreifen und handgewebten Leinenstoffen herstellt, wurde 2004 von der jungen Addis Abebanerin Bethlehem Tilahun Alemu mit 20.000 Euro Startkapital gegründet und macht inzwischen mehr als eine Million Dollar Umsatz. Die Schuhe sind in Deutschland über Amazon zu beziehen.

• Per Gerichtsentscheid sind 340.000 Euro einer einheimischen Charityvereinigung, des Human Rights Council, eingefroren worden, weil sie aus ausländischen Quellen stammen. Laut Statut müssen äthiopische Organisationen sich zu 90 Prozent aus einheimischem Geld finanzieren. Doch der Human Rights Council hat innerhalb von Äthiopien lediglich 14.000 Euro an Spendengeldern einnehmen können.

• Erste Ernte der Castel Winery: 75 Zentner Chardonnay-Trauben auf einer Farm in Ziway, 160 Kilometer südlich von Addis Abeba. Das französische Unternehmen Castel hat vor drei Jahren eine Million Rebstöcke aus Bordeaux importiert und eingesetzt. Man will künftig zweimal im Jahr ernten, es herrsche ideales Weinbauklima, auch wenn der extrem alkalische Boden Probleme bereitet. Bis 2015 sollen jährlich 1,5 Millionen Flaschen Wein produziert werden, 50 Prozent davon für den Export.

• Steuereinnahmen in Addis im vergangenen Quartal verdoppelt im Vergleich zum Vorjahresquartal.

• Ganzseitige Immobilienanzeige für die „Beverly Hills Apartments“ in Yeka: 140 Quadratmeter für 100.000 Euro. Durchschnittliches Jahreseinkommen in Äthiopien: 88 Euro.

• Ganzseitige Anzeige für koreanische Tresore. „Kostenlosen Service, falls Sie früher einmal beim Kauf eines koreanischen Tresors Probleme gehabt haben sollten.“

• Memorandum über den Bau von landesweit vier neuen Gefängnissen, zusätzlich zu den veralteten Gefängnissen aus den 50er Jahren mit Platz für weitere 18.000 Häftlinge. Derzeit sitzen 326 Häftlinge mit Todesstrafen in den Gefängnissen.

• Mehrere ganzseitige Anzeigen von ortsansässigen Firmen wünschen „Fröhliches Opferfest“, so auch die des Sheraton Hotels: „Fountain Court offers its Classical High Tea“.

Und das war der Presseclub am Sonntag. Ich bedanke mich für Ihr Interesse.