Wenn man nur einen Ort in Äthiopien ansehen könnte, sollte es Lalibela mit seinen elf Felsenkirchen sein. Am Ende dieses Tages war ich zutiefst beschämt, dass ich vor meinem Äthiopien-Monat noch nie von diesem Ort gehört hatte. Das mag an meiner mangelnden Bildung liegen, aber ich vermute, ich bin nicht die einzige. Wie kann es sein, dass die ägyptischen Pyramiden weltberühmt sind und diese Bauten, ein mindestens ebenso großes Weltwunder, kaum bekannt?



Am Beispiel einer der Kirchen, des kreuzförmigen Bet Giyorgis, lässt sich das, was hier geschaffen wurde, besonders gut erklären: Die zehn bis dreizehn Meter hohen Bauten wurden direkt aus dem Basalt herausgeschlagen. Von oben nach unten wurde der Fels um sie herum abgetragen, anschließend wurden sie ausgehöhlt – wenn man das so profan nennen will, denn im Inneren finden sich feinst herausgemeißelte Säulen und Apsiden. Der Bauplan muss von Anfang an bis im Detail festgestanden haben, wie man an den Wasserrinnen von Bet Giyorgis sehen kann, die ja fast als erstes herausgemeißelt sein müssen. Und, fast noch unglaublicher: Jede Kirche ist anders, folgt einem anderen Baustil, und das, obwohl sie über einen Zeitraum von nur 100 Jahren entstanden sind.
Die Kirchen sind im 12. Jahrhundert von König Lalibela beauftragt worden. Um ihn ranken sich, wie um alles in Äthiopien, viele Legenden. Als Kind sei er von einem Schwarm Bienen umgeben worden, die ihm jedoch nichts antaten, Lalibela heißt entsprechend „Den die Bienen als Herrscher anerkennen“. Später soll er von seinem eifersüchtigen Bruder, dem damaligen König, vergiftet worden sein und habe drei Tage im Koma gelegen. Dabei sei ihm der Bauplan eines zweiten Jerusalem als Vision erschienen. Eine andere Version besagt, dass er nach dem Attentat für 25 Jahre nach Jerusalem floh und zurückkehrte mit dem Plan, eine zweite Stadt dieser Bedeutung zu bauen. Bis heute ist Lalibela der neben Axum heiligste Pilgerort äthiopischer Christen. Zu Weihnachten kommen 500.000 Gläubige hierher. Doch auch im Alltag sind die Kirchen alle in Betrieb; Priester, Betende, Touristen, Führer leben in friedlicher, andachtsvoller Koexistenz. (Bis auf einige, die sich die beinah naive unschuldige Atmosphäre zunutze machen: 1997 verschwand das sieben Kilo schwere Goldkreuz von Lalibela, ein nationales Heiligtum. 1999 wurde es im Gepäck eines ausreisenden belgischen Antiquitätenhändlers gefunden.)




Bet (= Haus) Amanuel: klassisch strenge axumitische Baukunst, innen wie außen mit präziser Geometrie gestaltet.



Bet Maryam ist innen besonders reich verziert, auch der Davidstern findet sich an seiner Decke. Am faszinierendsten aber fand ich die verhüllte Säule. Angeblich befinden sich eingraviert auf ihr die zehn Gebote in der alten Landesschrift Ge’ez, aber auch Details zum Bau der Kirchen sowie zu Beginn und Ende der Welt. Der Legende nach habe die Säule bis ins 16. Jahrhundert geleuchtet, die Priester haben bislang nie zugelassen, dass sie enthüllt wird, nicht einmal zu wissenschaftlichen Untersuchungen. In regelmäßigen Abständen wird sie in neues Tuch gekleidet.


Die Kirchen, die in zwei größeren Komplexen und der Einzelkirche Bet Giyorgis angeordnet sind, sind untereinander durch ein labyrinthisches System von Gräben und Gängen verbunden. Der beeindruckendste davon ist gut 15 Meter lang, unterirdisch und ohne jegliches Licht. Man tastet sich durch tiefste Schwärze, die eine Hand an der rauen Wand, die andere über dem Kopf, um sich nicht zu stoßen – damals wie heute ein Glaubenstest.



Noch mal, weil es wirklich so unglaublich ist: Jedes noch so kleine bauliche Detail, innen wie außen, musste mühsam aus dem Fels herausgemeißelt werden. Auch scheinbar nebensächliche Funktionen wie diese Durchgriffe zum Befestigen von Öllampen oder Vorhängen.


Eines der amüsanten Rituale von Lalibela ist, dass einem ein lizensierter shoe bearer zur Seite gestellt wird: In den Kirchen muss man die Schuhe ausziehen, der shoe bearer passt auf sie auf und trägt sie gelegentlich auch schon zu einem anderen Ausgang voraus, wenn man mal wieder durch das Labyrinth der Gänge woanders landet als am Ausgangspunkt. Eine reine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme natürlich, aber eine charmante. Einige Touristen lassen sich von ihren Jungs die Schuhe binden, ich habe unserem (oben beim messerscharfen Bewachen von Netsanets und meinen Sneakern) freundlich klar gemacht, dass ich das auch alleine kann.


Eine Erklärung für die relative Obskurität von Lalibela ist sicher der Umstand, dass es lange legendär unerreichbar war. Jahrtausendelang führte keine Straße in das Gebiet, der britische Historiker Thomas Pakenham brauchte noch Mitte der Fünfziger vier Tagesreisen auf dem Maultier, um von Dessie nach Lalibela zu gelangen. Lange kamen jährlich vielleicht fünf Besuchergruppen. Bis Ende der Neunziger waren die Pisten in der Regenzeit unbefahrbar, auch der Flugverkehr konnte nur in der Trockenzeit stattfinden: Die Startbahn des 25 Kilometer entfernten kleinen Flughafens ist erst seit kurzem asphaltiert.

Unglaublicher Ort, oder? Man taumelt heraus, zutiefst berührt, ergriffen, demütig, fassungslos. Und einmal mehr dankbar dafür, all das sehen zu dürfen.
