Wo er Recht hat…

Roger Willemsen wird von vielen Leuten als etwas anstrengend empfunden, und gelegentlich geselle ich mich zu diesen Leuten. Aber was er hier über das Reisen sagt, unterschreibe ich zu 100 Prozent.

Warum sollte der Mensch reisen?

Willemsen: Der Mensch könnte sich anziehen lassen. Einmal von der Aussicht, sich selber zu verwandeln. Und zwar dadurch, dass er Zonen betritt in seinem eigenen Innenleben, die er ohne die Reisen nicht betreten hätte. Er liefert sich Zuständen des Ekels, der Angst, der Langeweile, des Nicht-Verstehens aus, und gleichzeitig konfrontiert er sich ganz objektiv mit anderen Gebräuchen. Mit anderen Formen zu trauern, zu trösten, zu lieben, albern zu sein, Humor zu entwickeln und so weiter. In all diesen Punkten gibt es Formen der Selbsterneuerung. Und dann ist es aber so, dass man die reale Vielfalt der Lebensformen eigentlich nur kennenlernen kann, indem man in sie eintritt. Das heißt auch, er sollte im Staub eines nordafghanischen Dorfes ebenso geschlafen haben wie in einer Hütte in Polynesien.

Das heißt, es gibt einen Unterschied zwischen Touristen und Reisenden.

Willemsen: Ja, den mache ich schon. Der Tourist ist derjenige, der die Augenblicksberührung sucht, der immer gern ein Foto machen möchte. Er lebt also im Lidschlagtempo. Er sagt «ich und der Eiffelturm», «ich und die Rialto-Brücke», «ich und der Assuan-Staudamm». Der Reisende will eigentlich eher verschwinden in den Räumen, will unsichtbar werden, will die Orte sehen, wie sie immer sind – auch wenn er selber nicht da ist.

Also geht es auch um Selbstverlust, um letztlich sich selbst zu finden?

Willemsen: Ja, ganz recht. Die Möglichkeit, selber vollkommen zu verschwinden, unscheinbar zu sein, sich zu verlieren, ist eine Bedingung dafür, sich selber zu gewinnen. Und in einem anderen Sinne tatsächlich, ja, sich zu besitzen. Um «ich» sagen zu können.

Gibt es die eine perfekte Art zu reisen, um dies zu erreichen?

Willemsen: Wissen Sie, das Entscheidende wäre, glaube ich, sich treiben zu lassen. Wie der Flaneur, der entweder durch die Großstädte zieht und nicht die Sehenswürdigkeiten miteinander verbinden will oder in der Ferne ankommt und sagt: Ich lasse mich treiben. Und da, wo Spannung ist, da bewege ich mich hin. Ich synchronisiere mein Innenleben auch eher mit der eigenen Erschöpfung, der eigenen Neugier, mit der äußeren Bewegung, als dass ich mich leiten lasse von der unterstellten Bedeutung, die Orte haben. Das hat mir immer am meisten bedeutet.

Aber Sie können auch verstehen, wenn das dann vielleicht ein Gefühl der Unzufriedenheit hervorruft? Wenn man drei Dinge sehen will und es am Ende nur für eins gereicht hat, weil man sich hat treiben lassen?

Willemsen: Ja, das könnte passieren, dass man sagt: Mensch, ich habe die Blaue Moschee verpasst. Aber das Wichtige ist am Ende doch, dass Sie etwas in Ihrem Innenleben finden, das der Blauen Moschee entspricht. Die Menschen unterstellen ja, wenn sie in die Blaue Moschee eintreten, dass sie von tiefer innerer Erschütterung befallen sind. Das Peinlichste auf Reisen ist, nicht erschüttert zu sein. Die Mona Lisa nicht aufregend zu finden. Und dann sagt man sich: Eine Szene, eine Umarmung, ein Duft irgendwo hat mir mehr Wirklichkeit zugefügt, als es das größte Kunstwerk getan hat. Der Tourist sagt immer – natürlich auch weil er seinen Jahresurlaub dort verbringt: Lass mich nicht im Stich, Sehenswürdigkeit, du sollst mich gefälligst erschüttern. Und dann steht er davor und ist ein wenig ratlos.

Das heißt, es geht am Ende nur um die Geschichten, die Situationen, Ereignisse?

Willemsen: Ja, genau. Ich nehme die Orte persönlich. Ich finde immer, dass ich wirklich nur dagewesen bin, wenn ich den Ort von allen anderen unterscheiden kann, die ich sonst gesehen habe.

6 Antworten to “Wo er Recht hat…”

  1. Bea Says:

    Das ist mir aus der Seele gesprochen.

  2. *Tasiaa Says:

    Genau so.
    T.

  3. closetpeek Says:

    Word.

  4. Annette B. Says:

    Mich begeistert besonders, wie Willemsen zwischen Touristen und Reisenden unterscheidet – genau so empfinde ich es auch. Und dann der Absatz über die Blaue Moschee in uns selbst – grandios! Das ist poetische Prosa. Chapeau, Roger!

  5. colette Says:

    wunderbar gesagt

  6. Aus dem Regal « Papas Wort Says:

    [...] Und das Reiseverständnis des Autors hat passenderweise eine gerade durch die Gegend reisende Dame an anderer Stelle recht treffend zitiert. Das spare ich mir hier [...]