Regentag
Herrlich. Bei Regen aufgewacht, Tee gekocht, den Tropfen an den großen Fenstern zugeguckt. Und jetzt lungere ich im Marks & Spencer-Schlafanzug auf dem Sofa herum und bete, dass der Regen nicht nachlässt, so dass ich heute weder Schlafanzug noch Sofa verlassen muss. Das Haus hat eine bestens bestückte Bibliothek aus Design- und Reisebüchern, dazwischen stehen Klassiker wie Madame Bovary neben DVD-Boxen mit Godard-Filmen und, noch besser, Toy Story 1 bis 3. Aber auch andere Lieblinge von mir wie ein Buch der großartigen, großartigen, wunderbaren Maira Kalman finden sich hier. Und Ryszard Kapuscinskis Gespräche mit Hofschranzen des äthiopischen Königshauses nach dem Sturz von Haile Selassie – beste Vorbereitung für den November. Es gibt weder Fernseh- noch Handyempfang im Haus, es ist auch in dieser Hinsicht das Paradies.
Eines der Bücher hatte ich schon vorgestern mit in mein Schlafzimmer genommen: W.G. Sebald, Die Ringe des Saturn. Auch eines dieser „Wollte ich schon immer mal“-Bücher, das hier nun unbedingt gelesen werden wollte. Denn Sebald schildert darin seine Wanderung durch die spärlich besiedelte Landschaft von Suffolk (also durch genau die Gegend, in der das Haus steht), ähnlich mäandernd, wie Maira Kalman zeichnet, aber unendlich melancholischer. Erinnerungen, Assoziationen schlendern im Fußtempo in die Erzählung hinein und wieder hinaus. Ich habe mich sofort darin festgelesen, vielleicht, weil es meinem eigenen derzeitigen Wahrnehmungstempo so gut entspricht.
Als wir gestern morgen über die Dörfer nach Dunwich fuhren, im Mittelalter eine der wichtigsten Hafenstädte von Europa und sechstgrößte Stadt von England, doch über die Jahrhunderte vom Meer verschluckt und heute nur noch ein trostloser Ort aus zehn Häusern, einem Museum und einer Fish & Chips-Bude (im Führer steht: „Das Interessanteste an Dunwich ist das, was es nicht mehr gibt“), war die Sebaldsche Melancholie fast mit Händen zu greifen. Einst standen hier 400 Häuser, acht Kirchen, dutzende von Windmühlen, im Hafen lag eine Handelsflotte von 80 Schiffen – und alles ist untergegangen. Im 13. Jahrhundert schluckte ein Sturm fast ein Viertel der Stadt, der Hafen wurde unnutzbar, und ohne Einnahmen fehlte auch das Geld, sich gegen die gefräßige See anzustemmen. Ein Haus nach dem anderen stürzte die Klippen hinunter, die sich mehr und mehr ins Landesinnere vorarbeiteten. Schließlich stand nur noch die Ruine der All Saints-Kirche. „In 1919 it, too, slipped over the cliff edge, together with the bones of those buried in the churchyard“, schreibt Sebald, und „if you look out from the cliff-top across the sea towards where the town must once have been, you can sense the immense power of emptiness.“
Ein Dörfchen weiter landeinwärts, in Westleton, sieht es schon ganz anders aus. Ein heiterer Ententeich, Vorgärten mit Stockrosen und Kornblumen, ein nett rummeliger General Store und gegenüber, in einer ehemaligen Methodistenkirche, ein labyrinthisches Antiquariat. Überall stehen verschlissene Sessel; wer Bedienung will, soll mit einem Stock auf einen alten Ölkanister eindreschen, um die Buchhändler aus den hinteren Räumen zu locken. Ein Mädchen erscheint, fragt, ob wir gern Tee hätten, und bringt ein Tablett. Ich frage nach dem Sebald, ich würde ihn gern in London weiterlesen. „I have to ask Bob“, sagt sie. Bob erscheint aus den Katakomben, ein leichenblasser Mann mit schlohweißem Haar, gekleidet in eine blaugestreifte Pyjamahose, und nach einigem Hin und Her wird das Buch gefunden. „Es ist die Erstausgabe der englischen Übersetzung, deshalb ein bisschen teurer“, sagt Bob – ganze sechs Pfund.
Zuhause eine Mail von meinem alten Freund Andrew, Germanistik-Professor in Cambridge, derzeit aber leider in Berlin, sonst hätte ich ihn auf dem Heimweg nach London besucht: „Noch schöne Tage in Suffolk. ‘Die Ringe des Saturn’ von Sebald kennst Du wahrscheinlich? Ich habe neulich einen Aufsatz zum emigrierten Dichter und Übersetzer Michael Hamburger geschrieben, der in Suffolk lebte und auch bei Sebald vorkommt.“ Unsere alte Freundin, die Sychronizität, mal wieder.
Die ist übrigens auch optisch tätig. Ich habe es schon mal kurz angedeutet: Mein Übergepäck hat viel mit den Requisiten von Häuslichkeit zu tun, die ich trotzig durch die Welt schleppe. Teekanne, Morgenmantel, Ukulele – und ein Gobelinkissenstickset des britischen Herstellers Ehrman, eine meiner verschrobeneren Leidenschaften. Ich hatte es für lange Kaminabende mit ins Haus genommen, und hier traf das Kissen-Motiv auf eine mindestens genau so bunte Tassensammlung im Schrank, die problemlos die Vorlage hätte liefern können.
Juli 14th, 2011 at 12:39
Das ist wirklich faszinierend: man merkt auch an den Posts, dass Sie auf dem Lande angekommen sind, die Geschwindigkeit nimmt ab, man kommt zwischen den vielen Eindrücken, mit denen Sie uns hier wie mit Konfetti bewerfen, fast ein bisschen zur Ruhe. Vielleicht ist das aber auch nur Sebalds Melancholie, die da durchschimmert. Wäre auch melancholisch wenn mir die Dörfer vor der Nase weg ins Meer rutschen würden.
Juli 14th, 2011 at 12:48
Die alte Freundin Sychronizität… Das wunderbare an dieser Freundin ist, den inneren und ä0ßeren Freiraum zu haben, sie überhaupt zu bemerken und zuzulassen!
Und Sebald muß ich jetzt sofort lesen.
Juli 14th, 2011 at 13:23
Maira Kalman in der Hausbibliothek? Unglaublich!
Ich habe erst im Mai in einem Anfall von Panik ganze 5x die optisch wie haptisch so wunderbare, gebundene Ausgabe von “The Principles of Uncertainty” in den USA bestellt, weil sie hier in Deutschland plötzlich nicht mehr erhältlich war.
Gottlob scheint man sich inzwischen eines besseren besonnen zu haben, denn es gibt sie wieder, und ich überlege jetzt, welche fünf Freunde ich damit noch nicht beglückt habe…
Ich wünsche Ihnen noch lange anhaltenden Regen.
Juli 14th, 2011 at 15:17
Habe mir alle Buchtitel abgeschrieben um sie zu lesen.
Juli 14th, 2011 at 15:37
Ja, die bisherige Dominanz des Urbanen wird auf dem Land ausbalanciert und weggeschaukelt.
Glück muss man _können_. Meike, Du kannst.
Entspanne dich.
Lass das Steuer los.
Trudle durch die Welt.
Sie ist so schön.
(Tucholsky)
“Le bonheur n’est pas le but
mais le moyen de la vie.”
Paul Claudel
Juli 14th, 2011 at 15:57
Ich liebe sie auch diese Regentage, an denen man sich nicht verpflichtet fühlt sich wegen des schönen Wetters in ungewollte Aktivität stürzen zu müssen!
Ich liebe Ihre momentane britische Entschleunigung!
Gruß!
Franka
Juli 14th, 2011 at 16:01
Wunderbar, diese Blumenpracht! Ich liebe Kornblumen und habe den irrwitzigen Versuch unternommen, sie in Balkonkästen zu pflanzen. Überraschenderweise wachsen sie dort gut und recht schnell, sind aber für Blumenkästen natürlich viiiel zu hoch, aber einfach soooo schön!
Bitte Wasserbilder vom Regentag!!!
Juli 14th, 2011 at 18:37
Du stickst? Find ich grandios!
Juli 14th, 2011 at 19:11
Wenn Sie mit den “Ringen des Saturn” fertig sind, dann kann ich die anderen Titel “Die Ausgewanderten- Vier lange Erzählungen” und “Austerlitz” von W.G. Sebald nur schärfstens empfehlen. Ein Jammer, dass dieser großartige Autor einen so frühen und absurden Unfalltod erlitt!
Juli 14th, 2011 at 19:51
Nach so viel Trubel, so viel Gelassenheit zu haben und zu bekommen ist ein schönes Geschenk
@jule: “Glück muß man können.” – fantastisch, ich hab es gelesen und gedacht, ja genau so ist das. Danke dafür…
Liebe Grüße
Ulrike
Juli 15th, 2011 at 09:14
London ist zweifelsohne eine Reise wert. Aber wer von UK nur London kennt und nie die kleinen Städte und Dörfer gesehen hat, hat echt was verpaßt!
Juli 22nd, 2011 at 14:19
Ich hab mir gleich alle Buchtitel abgeschrieben und auch die Buchregale im vorletzten Bild sind ein Traum
August 20th, 2011 at 11:26
Ich habe die Schale zu der grünen, klassischen Teetasse!