Wie im Schlaf

So wie die Schlussszene eines meiner ewigen Lieblingsfilme, „Es war einmal in Amerika“, habe ich mir immer Shanghai vorgestellt: eine Stadt wie eine Opiumhöhle, dunkel, verboten, ein Ort des Vergessens. Bestimmt kein Zufall, dass meine Lieblingsorte alle in dieses somnambule Muster passen, obwohl die Stadt selbst so gleißend, so rasend ist. In meinem Massagesalon Dragonfly herrscht permanentes Halbdunkel, man verständigt sich flüsternd; im Raum für die Fußmassagen stehen sechs Liegesessel nebeneinander, oft müssen die Kunden geweckt werden, damit der nächste drankommen kann. Eine moderne Opiumhöhle, aus der ich jedes Mal wie betäubt taumele.

Das Mansion Hotel war in den Dreißigern die Villa von Sun Tingsun, einem Geschäftspartner von Huang Jingrong und Du Yueshang, den beiden mächtigsten Shanghaier Gangstern jener Jahre. Du war der Al Capone von Shanghai, der mächtige Boss der „Grünen Bande“ (einer Privatarmee aus 20.000 Leuten) und beherrschte mithilfe von korrupten Beamten und Huang, dem Polizeichef der French Concession, praktisch die ganze Stadt. Im heutigen Mansion Hotel war die… nennen wir es: Geschäftszentrale eingerichtet. Heute einer der besten Orte für einen Tee in einem fast musealen Dreißiger-Jahre-Ambiente.

Mansion Hotel, Xingle Lu 82

1910 wurde am Bund der Shanghai Club gegründet, ein britischer Privatclub. Dessen Schmuckstück: die Long Bar aus Mahagoni, die mit 34 Metern zur damaligen Zeit längste Bar der Welt. Noel Coward sagte, man könne an ihr die Erdkrümmung erkennen. Man konnte sich nicht einfach irgendwohin setzen, die Plätze wurden nach Status vergeben. Je höher in der Hackordnung, desto näher am Ostende der Bar, mit dem besten Blick auf den Huangpo. Die Bar, die in den Neunzigern einem Kentucky Fried Chicken weichen musste, wurde letztes Jahr rekonstruiert und Teil des Waldorf Astoria, das im Gebäude des alten Shanghai Club eröffnet wurde. Klar haben wir uns ans Ostende gesetzt – aber ein paar Plätze vom äußersten Rand entfernt. Man muss immer Platz für Weiterentwicklungen lassen.

Long Bar, The Waldorf Astoria, The Bund, Zhong Shan Dong Yi Lu 2

6 Antworten to “Wie im Schlaf”

  1. Bea Says:

    Wie schön, dass es noch ‘alte’ Orte in Shanghai gibt. Mein Bild dieser Stadt ist dem Ihren sehr ähnlich. Geprägt von der Abenteuer – und Karl- May- Lektüre meiner Kindheit und Jugend. Und es ist auch immer noch auf meiner Liste der Orte, die ich unbedingt besuchen möchte.

  2. Max Says:

    ich meine (s.u.) bitte nicht nur “heile Welt” auch wenn du im Urlaub bist, aber ein Jahr durch die Welt würde ich auch nicht mit verbundenen Augen verreisen.
    „Die indische Elite hat ihren Anstand verloren“
    In Indien werden Minister und Unternehmer wegen Bestechung und schwarzer Kassen verhaftet. Vor allem die ganz Armen leiden unter der korrupten Wirtschaft, sagt die Bürgerrechtlerin Mallika Sarabhai. Sie müssten bestechen, um zu überleben, etwa um eine Gasflasche zu bekommen oder ein Krankenhausbett.” Fortsetzung s. faz.net von heute

  3. meike Says:

    @Max. Ich habe es an anderer Stelle schon mal geschrieben: Ich reise ohne Berichterstatterpflicht. Ich schreibe auf, was mir auffällt, gefällt, missfällt (selten, zugegeben).Vor allem aber: was mir zufällt. Informationen über politische Entwicklungen eines Landes müsste ich meinerseits aus der Presse ziehen – Du zitierst nicht zufällig die FAZ. Korruption findet ja nicht vor meinem Haus auf dem Bürgersteig statt, und als Presseschau sehe ich das Ganze hier nicht.

  4. Katharina Says:

    Sehr interessant. Bitte mehr Berichte solcher Art!
    Ich kann schon fast das dunkle Holz und die Polster riechen…:)

  5. petra Says:

    Hallo Meike – findet irgendetwas Osteriges in Shanghai statt? Ganz herzliche Grüße aus dem sommerlichen HH!

  6. Gisela Says:

    Liebe Meike, wir genießen in Hamburg das wunderschöne Osterwetter und reisen “mal eben” nach Shanghai – wunderbar ! Ein frohes Osterfest wünsche ich Dir und hoffe, daß es auch dort zu spüren ist ! Sind die Temperaturen eigentlich entsprechend – um 25° ?
    Herzliche Grüße und weiter viele schöne Erlebnisse, Begegnungen und Eindrücke, an denen wir so bequem teilhaben können !