Kleine und große Fluchten

Sonntag, 5. Juni 2011

Von Russian Hill braucht man ungefähr eineinhalb Stunden, um bis Fort Point am Fuß der Golden Gate Bridge zu gelangen, ein schöner Spaziergang am East Beach entlang und durch Crissy Field, einen ehemaligen Militärflughafen, der renaturiert wurde. Und mir ein weiteres Exponat für meine Schöne-Park-Schilder-Sammlung beschert, die ich in Sydney begonnen habe.

Crissy Field war voller gut trainierter Menschen mit aufgemalten Nummern auf Armen und Beinen. Heute, am Sonntag, findet hier nämlich der Escape from Alcatraz-Triathlon statt. Zum Auftakt werden die Teilnehmer mit einer Fähre nach Alcatraz gefahren und dort in jeder Hinsicht ins kalte Wasser geworfen. Die Strecke zum Festland beträgt zwar nur knapp 2,5 Kilometer, aber die Wassertemperatur liegt bei 12 Grad und es gibt starke Strömungen – auch deshalb hat es in der 29jährigen Geschichte des Gefängnisses keinen erfolgreichen Fluchtversuch gegeben. Zumindest nach offizieller Lesart, denn fünf Gefangene gelten als „vermisst und vermutlich ertrunken“. Ihr Fluchtversuch: Stoff für einen weiteren San Francisco-Film, „Flucht von Alcatraz“ mit Clint Eastwood.

In die Serie „Schöne Park-Schilder“ passt auch eins, das ich blöderweise nicht fotografiert habe: die Beschreibung der Statue von Phillip Burton, dem ehemaligen Kongressabgeordneten, der fast im Alleingang dafür gesorgt hat, dass es diesseits und jenseits der Brücke diese riesigen Naherholungsgebiete gibt und eben keine unbezahlbaren Apartmenthäuser, wie sie in jeder anderen Stadt an einer solchen Stelle stehen würden. Wenn ich es recht zusammenkriege, stand auf dem Schild über Burton was von „streitbar, stur, charismatisch, nervig“ – auch das eines dieser Schilder, die man gern öfter unter Statuen von Politikern lesen würde.

Filmreif

Samstag, 4. Juni 2011

Mein erster Termin mit meinem Personal Trainer bei Crunch – und erst jetzt kriege ich überhaupt mit, in was für einem Club ich da gelandet bin. Das Crunch in der Polk Street ist in einem ehemaligen Kino untergebracht, dem Alhambra. (Doris Duke hätte es geliebt und mich erinnerte es an ein anderes Ex-Kino.) Unten im Parkett finden jetzt die Fitnessklassen statt, auf den Galerien stehen Laufbänder, von denen aus man auch heute noch Filme gucken kann. Als ich da war, lief gerade Gran Torino von Clint Eastwood (mit meinem Lieblings-Soundtracksong).

Mein Trainer Rusty ist ein Freund von Kabelzugmaschinen, Hanteln und dem Bosu Balance Trainer, was mich wieder mal daran erinnerte, dass ich 1. zwei Körperhälften habe – eine davon deutlich schwächer – und 2. null Balancegefühl. Montag bringt er mir ein Gerät mit, mit dem ich auf meiner weiteren Reise trainieren kann. Guter Mann.

Crunch, 2330 Polk Street, San Francisco, (415) 292-5444

Bullit

Samstag, 4. Juni 2011

Wenn man sich die Vallejo Street Steps hinaufgequält hat, eine der fiesesten Treppen der Welt, und dann ein paar Straßen weiter eine zweite Treppe hochgekeucht ist, steht man vor diesem Straßenschild. Bullit Chase Route? Hier hat also eine der berühmtesten Verfolgungsjagden der Filmgeschichte stattgefunden? Unter anderem, denn die Fahrt wurde an mindestens neun verschiedenen Orten gedreht und dann zusammengeschnitten. Trotzdem eine schöne Einführung in die Straßen von San Francisco:

Und wenn wir schon beim Thema sind: Drei Jahre später wurde die nicht minder legendäre Verfolgungsjagd in The French Connection gedreht. Hier erinnern sich die Beteiligten an den lebensgefährlichen Irrsinn bei den Dreharbeiten.

Caffe Trieste

Freitag, 3. Juni 2011

Meine Damen und Herren, zum ersten Mal in der Geschichte von Vor mir die Welt wird heute live vom Ort des Geschehens gebloggt. Wir senden aus dem Caffe Trieste in der Vallejo Street, Heimat der Beat Poets, einst und jetzt. Hier ein paar Impressionen, ich habe meine Kamera zuhause vergessen. Zu meiner Linken: Marcello, Lebenskünstler, an den Fingern mehr Ringe als Karl Lagerfeld, an den Handgelenken klingelnde Armreifen, auf dem Kopf eine Russenmütze und im Kopf hundert Theorien über die Schwerkraft, die Mafia, die Samurai und Mel Gibson. Vor ihm auf dem Tisch: eine Rundhaarbürste, eine kleine Holzskulptur von betenden Händen und eine silberne Glocke. Einen Tisch weiter sitzt ein vollbärtiger Allan Ginsberg-Verschnitt und schreibt mit Füller in ein ledergebundenes Buch. Daneben: eine Frau mit Sonnenbrille (man muss dazu wissen, dass es hier eher dunkel ist), die hektisch eine karierte DIN A4-Seite füllt. Rechts: ein Typ mit Baskenmütze. Baskenmütze! In San Francisco! Aus der Musicbox: Stan Getz.

Es ist, mit anderen Worten, einfach wunderbar. Es ist genau so, wie ich mir das vorgestellt habe. Wie immer, wenn ich zum ersten Mal an einen Ort gerate, den ich aus Filmen oder Büchern kenne (oder zu kennen glaube), bin ich völlig verblüfft, wenn es das alles in Wirklichkeit gibt. Ein irreales Gefühl, plötzlich mittendrin zu sitzen – als ob man in einem Film mitspielt, den man schon tausendmal gesehen hat. Und ich muss es dankbar sagen: Das Besetzungsbüro hat mal wieder ganze Arbeit geleistet beim Anheuern der Statisten.

Das Caffe Trieste gibt es seit 1956, hier wurde angeblich die erste Espressomaschine der Westküste aufgestellt. Francis Ford Coppola, der sein Büro um die Ecke hat und uns ja schon mal in Buenos Aires begegnet ist, hat hier das Drehbuch zu Der Pate geschrieben. Am Samstagnachmittag zwischen eins und fünf singt der Padrone Belcantos.

Jetzt: ein Fahrradbote. Setzt sich an einen Tisch, zieht ebenfalls ein Heft heraus (Mist, mit Laptop bin ich hier eindeutig overdressed) und schreibt. Ich höre jetzt auf und lese weiter in meinem frisch erstandenen Buch „How to write a sentence and how to read one“. Ach, ich werde so viel lernen in diesem Monat, ich weiß es jetzt schon.

Marcello geht. Und sagt zum Abschied zu niemand besonderem „Au revoir“.

609 Vallejo St, San Francisco, CA 94133. Das Password für das Wifi ist pumpkin62.

Neue Heimat VI

Donnerstag, 2. Juni 2011

Kaum war ich im Apartment, klingelte das Telefon. „Hi, this is Carl“, sagte eine erstaunlich junge Stimme. „Ich weiß, es ist spät, aber haben Sie Lust, noch mal hochzukommen? Ich kann Ihnen ein bisschen was zur Wohnung sagen.“ Carl ist mein Vermieter, er wohnt im 15. Stock und hat dort auch sein Büro. Außerdem hat er Wohnungen in Wien und London, von dort ist er am Nachmittag eingeflogen und direkt zu einem Empfang der schwedischen Botschaft gefahren. Morgen früh geht er ins Fitnessstudio, danach hält er einen Vortrag. Am Sonntag fliegt er schon weiter. Der Mann ist 87.

Carl ist Dr. Carl Djerassi, der Vater der Antibabypille, einer der berühmtesten Chemiker der Welt. Er lehrt seit 1959 in Stanford, hat 21 Ehrendoktorwürden, nebenbei mehrere Romane und Theaterstücke geschrieben und besitzt eine der größten Paul Klee-Sammlungen der Welt, die im San Francisco Museum of Modern Art hängt. Dass ich jetzt in seinem Gästeapartment wohne, ist eigentlich Zufall. Ich hatte vor einigen Wochen auf der Suche nach einer Wohnung in London auf Sabbatical Homes eine entdeckt, die mir gefiel. Vermieter: Carl Djerassi. Ungläubig mailte ich ihn an: „Sind Sie DER Carl Djerassi?“ Er grantelte zurück: „Ich heiße Carl Djerassi, ich weiß nicht, ob DER.“ Wir wurden uns aber schnell einig, und als er auf dem Blog entdeckte, dass ich auch nach San Francisco kommen würde – er liest deutsch, er ist in Wien geboren –, bot er mir seine Gästewohnung an. Die hat er bislang noch nie vermietet, es sei ein Versuch, sagte er.

Die Wohnung könnte nicht besser liegen: im schönsten Haus von Russian Hill, dem Bellaire Tower von 1930. Von hier aus kann man praktisch überallhin zu Fuß gehen. Ich war heute, am ersten Tag, im City Lights Bookshop (dazu morgen mehr), im Café Trieste (dazu auch), an der berüchtigt kurvigen Lombard Street, am Ghiradelli Square, auf eine Clam Chowder und ein halbes Dutzend Austern an der Bar von Sabella & La Torre an der Fisherman’s Wharf, habe in der Ferne Alcatraz gesehen und kann jetzt eigentlich wieder abreisen. Scherz. Denn die Golden Gate fehlt mir noch.

San Francisco ist nach dem Monat Delirium in Hawaii wie ein Nebelhorn. Ich bin hellwach und unternehmungslustig, bin für einen Monat Mitglied im Crunch Gym geworden, habe einen Personal Trainer namens Rusty angeheuert und einen Kühlschrank voll Health Food gekauft. Bis zum Ende des Monats sollen drei Kilo runter, jetzt ist Schluss mit lustig. Hier ist allerdings bloßes Spazierengehen schon wie eine mittlere Bergwanderung, die Filbert Street, zwei Block von mir entfernt, hat eine Steigung von 31,5 Prozent. Rusty und ich werden eine Menge Spaß haben.


Das erste Mahl VI

Mittwoch, 1. Juni 2011

Habe ich nicht neulich noch über fehlende Gewohnheiten geklagt? Hier ist eine: Die erste Mahlzeit im neuen Heim. Quaker Oatmeal Maple Brown Sugar mit Pfirsichyoghurt. Grüner Tee aus Shanghai (in der bekannten Kanne aus Buenos Aires).