Im Jetlag-Himmel

Samstag, 2. Juli 2011

4 Uhr. Die erste Kanne Tee im Bett, mit der aktuellen Ausgabe von Time Out. Hm, zu Take That ins Wembley Stadium gehen? Sie spielen diese ganze Woche, acht Konzerte, ein neuer Rekord (Michael Jackson hat es 1988 nur auf sieben gebracht).
5 Uhr. Ich stehe mit meiner Teetasse im Morgenmantel auf der Terrasse. Auf meiner Terrasse. Und gucke in meinen Park mit meinen Platanen. Aus Carls Küchenradio dringt leise Haydn nach draußen. Langsam wachen auch die Vögel auf.
6 Uhr. Laufsachen angezogen. Losgelaufen. Das erste Lied im Zufallsgenerator des iPod: Robbie Williams, Let Me Entertain You. Damit ist es entschieden: Take That, Wembley. Misstraue niemals dem iPod-Orakel.
An der Bushaltestelle: müde Nachtschichtgesichter, Mädchen, die sich aneinander festhalten, ein Typ mit Sonnenbrille und einem Red Bull in der zittrigen Hand. Vorbei an Lord’s, dem Allerheiligsten des Cricket. Mitte Juli wird es ein Testmatch zwischen England und Indien geben, wie üblich fünf Tage lang. Hingehen? Der iPod sagt nur „Do It (‘Til You’re Satisfied)“, was ja immer ein guter Rat ist, in diesem Fall aber nicht weiterhilft. Weiter in Richtung Regent’s Park. Ich weiß nicht genau, wo er liegt, aber es sind schon ein paar andere Läufer und Hundehalter unterwegs, man muss ihnen nur folgen.
Kreuz und quer durch den Park. Rund um volle Abfalleimer diszipliniert sortierte Haufen von Bierdosen und leeren Flaschen von einer nächtlichen Party. Die Engländer müllen sehr zierlich. An mir vorbei rumpelt ein Trecker mit sechs Fussballtoren auf einem Anhänger. Es wird langsam warm, der Beginn eines fabelhaften britischen Sommersamstags. Vorbei an The Honest Sausage („free range sausages, organic ice cream“). Plötzlich der Geruch von Meer und Fisch. Mitten im Park? Ah, das Seehundgehege des London Zoo.
Zurück entlang des Regent Canal. Keine Menschenseele unterwegs, nur zwei Hausboote tuckern mir langsam entgegen, die Besitzer hinterm Steuer winken herüber. Der Duft von Wicken und Rosen in den Blumentöpfen auf den ankernden Hausbooten.
7 Uhr. Im kleinen Laden in der Formosa Street ein Pfund Kirschen gekauft (könnte man es eigentlich schaffen, so um die Welt zu reisen, dass man immer Kirschsaison hat?) und die Wochenendausgaben von Süddeutscher (yay!) und Guardian. Der Zwanziger, den ich eingesteckt hatte, ist etwas feucht geworden. „Frisch gedruckt?“ fragt der indische Ladenbesitzer grinsend. Zuhause gleich wieder das Küchenradio angestellt. Dvorak. Tee gekocht, die Terrassentür aufgeschlossen. Auf der Balustrade, meiner Balustrade, läuft ein Eichhörnchen.
Jetzt frühstücken. Aber erst müssen die Pflanzen gewässert werden. Der Nachbar brät Speck.
Es ist das perfekte Glück. Und der Tag hat noch nicht mal angefangen.

Stammkneipe, auf der Stelle

Freitag, 1. Juli 2011

Von hier könnte ich notfalls sogar nach Hause kriechen: The Prince Alfred, mein neuer Pub gleich um die Ecke. Heute nachmittag mit klassischem Maida Vale-Fuhrpark davor: Kinderwagen und Klapprad mit Tesco-Tüte. Und nur britische Männer tragen ihre Hemden und Pullis so… so halt.

The Prince Alfred & Formosa Dining Room, 5A Formosa St, Westminster, London W9 1EE

Neue Heimat VII

Freitag, 1. Juli 2011

Mein Koffer hat sich in den letzten sechs Monaten sechs Kilo Übergewicht angefressen, ebenso wie ich. Im Fall des Koffers kostet das richtig Geld: United Airlines (die auch ansonsten für ihren miesen Service in die Fluglinien-Hölle kommen) haben mir dafür 200 Dollar abgeknöpft.

Damit steht zumindest schon mal ein Ziel für London fest: Reduktion. Das gilt allerdings nicht für meine neue Umgebung. Die Wohnung gehört ebenfalls Carl Djerassi, der ja schon mein Vermieter in San Francisco war, und ist die ganz große Oper: eine viktorianische Maisonette mit Kamin. Sie liegt in Warrington Crescent in Maida Vale, ganz in der Nähe der Hausbootsiedlung Little Venice. Als ich zum ersten Mal in die Küche ging und von dort auf die Terrasse, habe ich mal wieder einen hysterischen Lachanfall bekommen. Erstens: überhaupt eine Terrasse dieser Größe mitten in London, schon mal eine Sensation. Zweitens: Sie geht auf einen Privatpark hinaus, zu dem nur die Bewohner der umliegenden Häuser den Schlüssel haben. Auf den Bänken hatten es sich ein paar Nachbarn mit Büchern und Thermoskanne gemütlich gemacht, und mir fiel gleich die Schlussszene von Notting Hill ein (ca. ab Minute 1:10). Wieder mal: was für ein Glück. Noch schöner: Hier kann ich auch meine Gartenlust austoben, denn ich bin diesen Monat für die Hortensien und den Rosmarin auf der Terrasse verantwortlich.

Ansonsten war die Landung heute in aller Herrgottsfrühe so ganz anders als die bisherigen Ankünfte. Nach sechs Monaten wieder in Europa, zudem in einer Stadt, die ich als bisher einzige von vielen, vielen Kurzbesuchen kenne – das hatte was von Nachhausekommen. Das war, als ob ich nach einem halbjährigen Traum wieder im Alltag aufwache. Die Wagen mit den Milchflaschen, die Zeitungsschürzen, die Jungs in den Schuluniformen – hello again. Doch das war erstaunlicherweise nicht nur schön, das war mir alles plötzlich fast zu nah. Ich will noch nicht zurück! Um so dringender werde ich vermutlich in den nächsten Wochen das Fremde im Vertrauten suchen gehen (auch das ein schönes Training für die endgültige Heimkehr)

Richtig gefreut aber habe ich mich über zwei vertraute Gesichter aus meinem Hamburger Rudel, die zufällig in der Stadt waren: Sabine und Frank, mit denen ich sofort frühstücken ging. Ich glaube, ich habe ein bisschen gefremdelt – herrje, wie ungewohnt, nach Monaten wieder mit Freunden zu reden, denen ich mich nicht erklären muss… Aber sie haben es mich nicht merken lassen, die Guten.