Nachtrag Waikiki
Freitag, 2. September 2011 Girls just wanna have fun: Agatha Christie, eine der ersten britischen Surferinnen, 1922 am Strand von Waikiki. Schönes Wochenende!
Via flavorwire. Auch hübsch: Virginia Woolf spielt Cricket.
Girls just wanna have fun: Agatha Christie, eine der ersten britischen Surferinnen, 1922 am Strand von Waikiki. Schönes Wochenende!
Via flavorwire. Auch hübsch: Virginia Woolf spielt Cricket.
Das gehört eigentlich noch unter Hawaii, aber ich bin erst jetzt auf das Foto gestoßen. Inaugurationsfeierlichkeiten 20. Januar 2009, Parade der Bundesstaaten – und Barack und Michelle Obama machen diese seltsame Geste beim Vorbeimarsch der hawaiianischen Delegation. Wieso, weiß ich erst jetzt: Es ist der klassische Shaka-Gruß der hawaiianischen Surfer. Was für eine coole Socke.
Wer sich fragt, was ich an all den Tagen getrieben habe, an denen ich nichts gebloggt habe: zum Beispiel dies. Sehr früh aufstehen, so gegen sechs. Ungewaschen an den Strand gehen. Schwimmen. Danach zum Royal Hawaiian Hotel hinüberschlendern und sich am Kaffeestand in der Lobby, der für die early birds geöffnet ist, einen großen Becher mit Tee holen. (Dies ist technisch gesehen Diebstahl, da ich nicht Gast des Hauses bin. Deshalb habe ich dem Kellner heute zum Abschied 20 Dollar in die Hand gedrückt.) Mit diesem Teebecher in einen Nebentrakt gehen und sich in einen Schaukelstuhl setzen. Durch den Garten hindurch aufs Meer gucken. Schaukeln. Tee trinken. Nach einer halben Stunde nach Hause gehen. Duschen, Gesicht aufmalen, den Tag beginnen.
Heute habe ich dort besonders gern gesessen, und zwar wegen des historischen Fotos neben den Schaukelstühlen: ein Bild aus der Zeit, als man noch mit dem Schiff reiste und bei der Abfahrt streamers aus Papier zu den Verabschiedenden an Land warf. Es ging darum, dieses Papierband auf beiden Seiten so lange wie möglich festzuhalten, bis es dann beim Ablegen riss. Mich hat in Hawaii mehr nur als eine Luftschlange gehalten, aber reißen muss auch sie.
1. Viele neue Ukulele-Lieder.
2. Es heißt „in Hawaii“, nicht „auf Hawaii“, weil es ein Bundesstaat aus 137 Inseln ist. Es gibt zwar eine Insel namens Hawaii, die allerdings in Hawaii selbst nur Big Island heißt. Ansonsten ist hier alles ganz, ganz einfach.
3. Polynesian Paralysis – auch bekannt als Waikiki-Wachkoma – ist die komplette Unfähigkeit, auch nur einen Finger zu rühren. Es ist eine ernstzunehmende Krankheit, von der man bitte niemals geheilt werden möchte.
4. Ich mag es deutlich lieber, deutscher Zeit voraus zu sein als ihr hinterherzutrotten (machen Sie was draus, Dr. Freud). 12 Stunden hinter der deutschen Zeit zu leben hat mich in einen Stupor sondergleichen versetzt: Der Tag ist ja eh schon vorbei…. Vielleicht war es aber auch wirklich nur Punkt 3.
5. Man kann jeden Tag Ananas essen, ohne dass es einem über ist.
6. Und Mai Tai trinken.
7. Man darf sein Leben nicht damit verschwenden, Erwartungen zu erfüllen. Nicht mal die eigenen. Es ist erstaunlich, wie wenig man wirklich muss, wenn man mal ernsthaft darüber nachdenkt.
8. Offenbar gibt es nur die Wahl zwischen Fernweh und Heimweh; Weh ist immer dabei. Schön – wenn ich schon wählen darf, entscheide ich mich vorerst für Heimweh.
9. Man hat jederzeit das Recht, die Regeln, die man selbst aufgestellt hat,
10. zu ändern.
Soweit ich weiß, wird meist Djerba für die Insel der Lotophagen aus der Odyssee gehalten. Nach einem Monat Hawaii habe ich da eine ganz andere Theorie.
Wer nun die Honigsüße der Lotosfrüchte gekostet,
Dieser dachte nicht mehr an Kundschaft oder an Heimkehr:
Sondern sie wollten stets in der Lotophagen Gesellschaft
Bleiben, und Lotos pflücken, und ihrer Heimat entsagen.
Aber ich zog mit Gewalt die Weinenden wieder ans Ufer,
Warf sie unter die Bänke der Schiffe, und band sie mit Seilen.
Drauf befahl ich und trieb die übrigen lieben Gefährten,
Eilend von dannen zu fliehn, und sich in die Schiffe zu retten,
Daß man nicht, vom Lotos gereizt, der Heimat vergäße.
Und sie traten ins Schiff, und setzten sich hin auf die Bänke,
Saßen in Reihn, und schlugen die graue Woge mit Rudern.
Also steuerten wir mit trauriger Seele von dannen.
Homer, Odyssee, IX. Gesang
Genau so muss es zu Ende gehen. Mit ein paar Leuten am Tisch sitzen, bis es völlig dunkel ist über der Bucht von Kaneohe, nach einem entspannten Nachmittag mit Paddeln und Stand Up Paddle Surfing (mein erstes Mal – und ich bin nicht einmal runtergefallen, ein Wunder).
Dieter hat gekocht, Lucie hat gesungen, und wenn es eine vorläufige Antwort auf die Frage „Was mache ich hier eigentlich?“ gibt, dann vielleicht die: Leute zusammenbringen, die sich sonst wahrscheinlich nicht getroffen hätten. Es ist ein Anfang.
Ich habe meinen Kollegen vom Hamburger Raum der Stille versprochen, unterwegs immer mal wieder nach Orten der Stille Ausschau zu halten. Dieser hier war einer der bisher größten: das Valley of the Temples, ein wunderschön angelegter Friedhof im Schatten der Ko’olau-Berge, auf dem Buddhisten, Shintoisten, Protestanten und Katholiken friedlich nebeneinander liegen. Keine Grabsteine, sondern Platten, geschmückt von den schönsten hawaiianischen Blumen. Es war ein seltsam irrealer Anblick – als ob lauter Blumensträuße auf einer Wiese stünden. Und dazwischen dies:
Ganz still war es übrigens nicht. Von Zeit zu Zeit klang die große Glocke vom Byodo-In-Tempel herüber, die man immer anschlägt, bevor man den Tempel betritt. Sehr bewegender Ort, so einen habe ich heute gebraucht.
Byodo-In Temple, 47-200 Kahekili Highway, Kaneohe
Er stand so da, als ich heute in aller Herrgottsfrühe den Strand von Hunakai entlangging, und schaute aufs Meer, seinen Hund neben sich. Als ich eine Viertelstunde später zurückkam, stand er immer noch an der gleichen Stelle, in der gleichen Haltung. Und ich sagte zu ihm das, was mir vor ein paar Wochen eine Kellnerin gesagt hat: „I’d like to be you.“ Er guckte genau so verwirrt wie ich damals und antwortete: „Well, thank you.“
Denn das ist das Harte am Reisen: Es ist kein Leben. Keine Zugehörigkeit, keine Kontinuität. Ich gehe an einem hawaiianischen Strand spazieren und denke schon jetzt an San Francisco, an Logistisches wie Schlüsselübergabe und Mietwagenrückgabe, an Abschiedsessen und erste Kontaktaufnahmen am nächsten Ziel. Und bin auf einmal furchtbar müde.
Ich will mal wieder ein Zuhause, dachte ich, ich will endlich wieder einen Garten. Ich will den Dingen beim Wachsen zugucken, ich will denselben Baum im Frühjahr, im Sommer und im Herbst sehen. Meinetwegen sogar im Winter. Ich will mich nicht ständig verabschieden müssen und ich will nicht immer wieder von Null anfangen. Ich bin es leid, allein um die Erde zu kreiseln. Mir fehlen meine Freunde, die blöden alten Witze, die Rituale. Ich will, ohne Licht zu machen, nachts zum Kühlschrank finden, ich will von der Bäckereiverkäuferin „Wie immer?“ gefragt werden. Ich will Verantwortung und Verpflichtung. Ich will einen Hund, mit dem ich jeden Tag raus muss. Ich will jeden Sonntag mit den gleichen Zeitungen auf meinem Sofa verbringen, und ich will, dass Nils Minkmar was in der FAS geschrieben hat.
Sonntag, der 29. Mai 2011: der Tag, an dem ich zum ersten Mal nach Hause wollte. Nein, das stimmt nicht ganz: der Tag, an dem ich zum ersten Mal irgendwo bleiben wollte. Irgendwo einrasten. Irgendwo hingehören. Ich setzte mich in den Sand und guckte aufs Meer. Das hilft in der Regel immer: Das Meer ist mein Breitbandtherapeutikum, der große Knotenlöser. Ganz ruhig, sagte das Meer, dreh jetzt nicht durch. Du hast alle Freiheiten der Welt, du kannst machen, was du willst. Genau das kommt dir zwar gerade wie ein Fluch vor, aber atme erst mal ein bisschen, und du wirst schon sehen. Fahr jetzt zurück nach Waikiki, kauf dir auf dem Heimweg eine New York Times wie jeden Sonntag, koch dir eine Kanne Tee wie jeden Tag, und du wirst schon sehen. Flieg weiter nach San Francisco, und du wirst merken: Du wirst auch dort wieder das Vertraute finden und das Vertraute tun. Du bringst dein Zuhause überall mit hin. Ich blieb noch ein bisschen sitzen und hörte dem Meer ein bisschen länger zu. Denn das Meer hat immer Recht.
Der Mann mit dem Hund ging nach Hause. Er trug etwas in der Hand, das ich erst nicht erkennen konnte. Dann aber doch: einen Plastikbeutel mit Hundekot.
Möglicherweise will ich ja doch keinen Hund.
Ich versuche gerade, Somewhere over the rainbow auf der Ukulele zu lernen. Und stieß dabei auf dies. Seufz – nicht mehr in diesem Leben.